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“Dass sich ein BGE nicht finanzieren ließe, ist eine Ausrede der Politik” – Interview mit Marco Bülow

16. Juli 2022

Marco Bülow saß 19 Jahre im Bundestag, zwischen 2002 und 2018 für die SPD, später als erstes MdB für DIE PARTEI. Seit 2021 ist er vor allem publizistisch tätig: Mit seiner Initiative “Lobbyland” engagiert sich Marco Bülow gegen den Profitlobbyismus und für eine echte politische Wende, um die Demokratie zu revolutionieren. Mark Appoh aus dem Berliner Kampagnenbüro der Expedition Grundeinkommen hat lange mit ihm gesprochen.

Marco, wir als Volksentscheid Grundeinkommen wünschen uns breit angelegte Modellversuche zum bedingungslosen Grundeinkommen. Was bedeutet Dir persönlich das BGE?

Martin Sonneborn witzelt ja oft, er und ich hätten während unserer Zeit im Parlament ja längst ein Grundeinkommen testen können. Da ist schon was dran. Aber ganz im Ernst: Modellversuche zum BGE sind längst überfällig, ich fordere sie schon seit zehn Jahren. Das System, in dem wir aktuell leben, hat so viele Schwächen. Und ich habe 19 Jahre im Bundestag immer nur erlebt, dass wir bestenfalls Reparaturen durchführen, oft sogar verschlimmbessern. Das Dach ist undicht, es tropft überall – und wir stellen einen Eimer unter. Das reicht nicht, eine Grundsanierung muss her.

Warum kommt’s nicht zu dieser Grundsanierung?

Wir Menschen, grade in Deutschland, sind da oft sehr vorsichtig: Wir nehmen lieber das, was wir kennen und schlecht finden, statt mal auf was wirklich Neues und vielleicht fast schon Revolutionäres zu setzen. Gerade die progressive oder linke Kritik am Grundeinkommen macht aber selbst keine guten Gegenvorschläge zum Status Quo.

Ich nenne nur mal ein Argument fürs Grundeinkommen: Die viele Care-Arbeit, die vor allem von Frauen geleistet und oft überhaupt nicht finanziell entlohnt wird. In einem System, in dem alles auf Geld fußt und Dein Überleben davon abhängt, schafft das eine riesige Ungerechtigkeit. Sehr viele Menschen pflegen ihre Eltern oder ziehen Kinder groß, können in dieser Zeit keiner Erwerbsarbeit nachgehen oder werden am Arbeitsmarkt heftig benachteiligt – und fallen dann am Ende noch in ein diskriminierendes System. Es schreit nur so nach einer Umgestaltung. Das BGE wäre in meinen Augen ein sehr guter Weg, um eine Grundgerechtigkeit zu schaffen.

Aus Deiner Erfahrung im Bundestag: Warum kleben wir so sehr am bestehenden System?

Der erste Grund ist psychologisch: Viele Parteien wissen natürlich, dass dieses System ungerecht ist. Aber sie flickschustern lieber an dem herum, was sie kennen – in der Hoffnung, dass die Dinge irgendwann besser werden. Aber das tun sie nicht. 

Den zweiten Grund würde ich “Tradition” nennen: Keine einzige Partei im Bundestag stellt sich im Ganzen hin und sagt: Wir testen das mal. Das liegt daran, dass wir eine Arbeitsgesellschaft sind: Alles wird über Arbeit, sprich: Lohnarbeit, definiert. Diese Kultur zieht sich bis durch die komplette Gesellschaft, durch die Parteien, die Gewerkschaften. Die Wertschätzung für zum Beispiel Care-Arbeit oder Arbeit im kulturellen Bereich ist nicht so hoch, wie sie sein müsste.

Marco BülowMarco Bülow, (c) Susie Knoll

Wenn wir uns aber die Produktivitätssteigerungen der letzten 30 oder 40 Jahre anschauen, müssten die Menschen eigentlich immer weniger arbeiten, um das Gleiche zu erwirtschaften. Wenn sie am Wirtschaftswachstum angemessen beteiligt wären, vielleicht nur noch 10 Stunden pro Woche. Aber die Profite verteilen sich auf immer weniger Menschen und fließen oft auch nicht mehr in die Wirtschaft zurück. Nicht mehr die Lebensqualität steht im Mittelpunkt, sondern nur noch die Produktivität. Der Mensch wird reduziert auf einen Konsumenten und eine Arbeitskraft. Das ist nicht das, was Politik tun sollte. Da ist das Grundeinkommen fast eine Gretchenfrage. Die Menschen sind da oft schon viel weiter als die Parteien oder die Gewerkschaften, haben aber nicht den Handlungsspielraum, um etwas zu verändern. 

Und die Politik sagt fast unisono: Das lässt sich nicht finanzieren.

Eine Ausrede, wenn wir uns mal die jüngere Vergangenheit anschauen. Da werden mal so eben 100 Milliarden für ein Sondervermögen für Rüstung zur Verfügung gestellt. Und in anderen Bereichen soll es das Geld nicht geben? Das ist natürlich Quatsch.

Interessant finde ich ja auch: Fast alle nicht im Bundestag vertretenen Parteien – vor allem die progressiven – fordern das Grundeinkommen oder zumindest Modellversuche.

Stimmt. Dazu muss man auch sagen: Die Sonstigen haben ja zurzeit sehr viel Zulauf. Im Saarland waren es schon 10 Prozent. In NRW zwar nur 6, aber die unter 30-Jährigen haben zu 19 Prozent die Sonstigen gewählt – wären also zusammen fast die stärkste Partei. Viele etablierte Parteien verlieren den Rückhalt bei den jungen Menschen. Das ist ein Problem, weil wir in einer Parteiendemokratie leben. Alles Geld und alle Macht konzentriert sich auf einige wenige Parteien, von denen sich immer weniger Menschen repräsentiert fühlen. Das heißt: Wir müssen uns auch mal anschauen, wie die Zukunft dieses Parteiensystems eigentlich aussehen soll.

Wie könnten wir dafür sorgen, dass mehr Menschen ihre Stimme hörbar machen können?

Es müsste eine große Reform des Wahlrechts geben. Bei der Landtagswahl in NRW haben 45 Prozent gar nicht mehr gewählt. Viele wählen sonstige Parteien, die nicht (mehr) ins Parlament einziehen. Immer weniger Menschen werden also in einem Parlament repräsentiert. Und viele sind gar nicht wahlberechtigt, zum Beispiel 16-Jährige. Das thematisieren wir auch in unserem Podcast Lobbyland. Wir müssten über die Abschaffung der Fünf-Prozent-Hürde nachdenken, Leihstimmen einführen, das Wahlalter senken. Und wenn die Wahlbeteiligung unter einen bestimmten Wert fällt, müssten die Plätze im Parlament frei bleiben oder per Losverfahren zugeteilt werden. Wenn das passieren würde, würden sich die Parteien das erste Mal wirklich um die Nichtwähler*innen kümmern – was sie heute nicht tun.

Bei der Petition zum Krisen-Grundeinkommen Ende 2020 ist der Bundestag bisher auch eine Antwort schuldig geblieben. 

Demonstrationen oder Petitionen spielen im Bundestag einfach keine große Rolle, höchstens mal in den Medien. Da fehlt die Resonanz. Ich bin zum Beispiel für Bürger*innenräte, die für bestimmte Themen eine gewisse Zeit zusammenkommen, Entscheidungen treffen, die in Gesetzesinitiativen im Bundestag eingebracht und abgestimmt werden müssen. Dann wird daraus wenigstens eine öffentliche Debatte. Oder auch: die Demokratie ergänzen, damit es nicht bei dem alten Motto bleibt: Wählen und dann vier oder fünf Jahre die Klappe halten. Mit all dem ist nicht das ganze System verändert, aber wir haben wenigstens wieder ein bisschen mehr Demokratie. Es ist unglaublich schädlich, wenn sich so viele Menschen komplett von der Demokratie abwenden – denn dann kommen irgendwann die Rattenfänger von der ganz falschen Seite. Diese schleichende Entkernung tut nicht gut.

Marco BülowMarco Bülow, (c) Willi Weber

Einige der Themen, die Du ansprichst, versuchen wir auch gerade in Berlin mit der Volksinitiative “Demokratie für Alle” umzusetzen, unter anderem die digitale Eintragung von Volksbegehren. Wir müssen für den Volksentscheid Grundeinkommen zurzeit jeden Tag im Schnitt 2.000 Unterschriften auf Papier sammeln und im Original abgeben! 

Da sind wir aktuell noch auf dem Stand von 1960. Digital ist total überfällig. Und was das Wahlrecht für alle angeht: In NRW dürfen von 19 Millionen Menschen 5 Millionen gar nicht bei der Landtagswahl wählen. Aber die müssen ja am Ende auch mit der Politik leben, die da gemacht wird. 

Jetzt haben wir eine ziemlich düstere Bestandsaufnahme gemacht. Was sind aus Deiner Sicht denn die Wege zum Grundeinkommen? Was muss passieren, damit es ernsthaft diskutiert und eines Tages tatsächlich eingeführt wird? Ist das Bürgergeld der Ampel da ein erster Schritt?

Nein, das Bürgergeld ist nur ein anderer Name mit ein paar Justierungen an Hartz IV. Beim Grundeinkommen geht es aber um sehr viel mehr. Und wir sehen ja gerade, was bei den Sanktionen passiert: Da wird wieder nur ein Teil ausgesetzt. Wir müssen da einen klareren Schritt gehen.

Ich bin dagegen, dass Expert*innengruppen überhöht werden, aber wir brauchen eine gute Mischung aus Expert*innen und Initiativen, die darüber beraten. Dann bin ich für einen Bürger*innenrat, um eine Resonanz zu schaffen und die Diskussion zu fördern. Und die sollten dann großflächiger getestet werden, mit dem Know-how und Geld im Bund, mit zwei oder drei Alternativen. Dabei sollte immer wieder geschaut werden, was man justieren und verbessern kann, und dann irgendwann zur Abstimmung kommen. Das wäre ein demokratischer, ziviler Prozess und es wären andere Player an Bord als nur die Abgeordneten. Alle könnten sich einbringen. Wichtig ist, dass das nicht nur lobbyiert wird – und je mehr sich daran beteiligen und je verschiedener die Player, umso schwerer fällt es, dass die Lobby die Diskussion beherrscht. 

Favorisierst Du ein bestimmtes Modell zum Grundeinkommen, mal abgesehen von den klassischen Kriterien?

Das Grundeinkommen muss existenzsichernd sein und die Lebensgrundlage bilden, die garantiert wird, wenn Du hier geboren wirst. Einige Menschen in unserer Gesellschaft haben aktuell sehr viele Möglichkeiten, immer mehr haben immer weniger Möglichkeiten – und das schränkt Freiheit ein. Dafür gibt es so viele Stellen, an denen wir sonst viel Geld verbrennen, zum Beispiel die 40 bis 60 Milliarden Euro, die wir pro Jahr für klima- und gesundheitsschädliche Subventionen ausgeben – und die jetzt wahrscheinlich nochmal steigen. Warum nicht auch ein Sondervermögen für Bildung oder fürs Grundeinkommen, das sich aus Erbschaftsteuern speist? Wir sind das Land mit den geringsten Erbschaftsteuern, aber auch mit den größten Erbschaften. Zwei Drittel der Superreichen haben ihr Geld geerbt.

Was würde Dich an einem Modellversuch interessieren?

Eine Untersuchung der typischen Argumente gegen ein Grundeinkommen. Zum Beispiel: “Der hart arbeitende Arbeitnehmer, der 40 Stunden die Woche rackert, der soll hinterher nicht viel mehr Geld haben als jemand, der Grundeinkommen bekommt?” Man kann diese Aussage schon heute leicht widerlegen: Mit einem Grundeinkommen stellt auch die Arbeitsleistung wieder einen richtigen Wert dar, der sich nicht so ohne Weiteres ausbeuten lässt. Mich würde aber auch interessieren: Wie viele tun mit einem Grundeinkommen gar nichts mehr? Wie viele würden trotzdem aktiv werden? Wie viele werden entlastet? Wie verändert sich das Leben der Menschen? Würden die Arbeitsbedingungen besser werden oder die Löhne steigen?

Wie hätte sich Dein Leben mit einem Grundeinkommen verändert?

Ich hatte keine reichen Eltern, Bafög ging auch aus verschiedenen Gründen nicht. Ich habe dafür halt gearbeitet. Das hätte ich vielleicht etwas weniger getan, etwas konsequenter studiert, wäre vielleicht ins Ausland gegangen. Gerade für Menschen, die sich selbständig machen, könnte ein Grundeinkommen super sein. Ich persönlich hätte aber genauso Politik gemacht.

Oft wird ja unterstellt, dass bestimmte Jobs niemand gern macht. Manche Eltern sagen drohende Sätze wie “Willst Du irgendwann zur Müllabfuhr gehen?”, was ja unterstellt, dass dieser Job irgendwie nicht erstrebenswert wäre. Dabei machen ihn viele Menschen bestimmt gern und es wäre sicher einer der ersten Berufe, die wir als Gesellschaft vermissen würden.

Genau, und oft liegt es nicht nur am Einkommen – sondern vor allem an den Arbeitsbedingungen, die immer schwieriger werden, dass manche Jobs immer weniger Leute machen wollen. Viele Menschen in der Pflege sind supergern in ihrem Beruf, das ist ihre Erfüllung. Aber die Arbeitsbedingungen werden immer katastrophaler und sie haben keine Zeit mehr, sich wirklich um Menschen zu kümmern. Was übrigens kein Geld spart. Wenn Menschen nicht vernünftig behandelt werden, werden sie auch nicht gesünder. Das ist nicht alles mit technischem Fortschritt wie medizinischen Geräten lösbar. Natürlich wird es auch Jobs geben, in denen sehr viel digitalisiert wird. Das ist dann auch völlig in Ordnung. Aber das Menschliche wird in vielen Rechnungen vernachlässigt…

… zum Beispiel sprechen wir in der Debatte ums Grundeinkommen immer sehr viel darüber, ob es sich finanzieren lässt – dabei wäre es ja erstmal spannend, ob wir es überhaupt wollen…

Ja, und dann könnten wir viel besser darüber diskutieren, welche Jobs wir denn noch unter welchen Bedingungen wollen und welche wirklich lieber von Maschinen erledigt werden sollen. Ich rechne nicht mit einem Ende der Arbeit. Weiterhin werden viele Menschen einen Teil ihres Lebens mit Arbeit verbringen. Aber dann sollte die Arbeit halt auch Teil des Lebens werden und nicht nur zum Überleben dienen. Diesen menschlichen Anspruch haben wir irgendwie komplett vergessen. Dahin sollten wir zurück: zu der Erkenntnis, dass das Leben auch für andere Dinge da sein sollte. 

Danke Dir, Marco, für dieses spannende Gespräch!