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“Dass die Menschen faul würden, widerspricht meiner Erfahrung” – Interview mit Judith Holofernes

7. Juli 2022

Judith Holofernes ist Musikerin, Songwriterin und Autorin. Bekannt wurde sie als Sängerin der Band Wir Sind Helden. Seit vielen Jahren engagiert sie sich auch politisch. Unser Expeditionsmitglied Mark hat sie zum Grundeinkommen befragt.

Liebe Judith, Du engagierst Dich seit langem politisch und sprichst Dich auch für ein Grundeinkommen aus. Warum?

Für mich ist ein BGE die spannendste, umwälzendste und gleichzeitig realistischste soziale Idee, die zurzeit verhandelt wird. Ich habe mich in meinen Songs schon immer gerne mit dem Thema Arbeit beschäftigt, mit unserem beschränktem Verständnis von Arbeit, mit der Grausamkeit, seinen Selbstwert an Vollbeschäftigung knüpfen zu sollen. Ich denke, unsere Vorstellung von wertvoller Tätigkeit ist komplett überholt, nicht nachhaltig, nicht haltbar und ganz schlicht nicht mehr notwendig. Ein Grundeinkommen hingegen könnte sich positiv auf fast alle Bereiche auswirken, die mir wichtig sind: soziale Ungleichheit, Feminismus, Nachhaltigkeit, Klima, Kreativität, Innovation, freieres Denken.

Was hätte sich für Künstler*innen und für die gesamte Kunst-, Kultur- und Gastronomiebranchen verändert, wenn es schon ein Grundeinkommen gäbe, gerade in Zeiten einer globalen Pandemie?

Viele Künstler*innen, die ich kenne, haben während der Pandemie aufgegeben, wirklich von ihrer Kunst zu leben. Sie haben sich aufs Unterrichten konzentriert und sind dabei geblieben, oder sie konnten ihre Kunst nur mithilfe von mehr oder weniger kompliziert zu beantragender Förderung weiter verfolgen. Viele Leute sind deprimiert und entmutigt und sprechen von verlorenen Jahren. Kunstschaffende müssen schon immer einen langen Atem haben, viel Hoffnung und Optimismus, um an ihrer Vision festzuhalten. Wenn sie ein Grundeinkommen gehabt hätten, wäre das auch während der Pandemie leichter gewesen, trotz ausbleibender Konzerte und anderer Rückschläge.

Judith Holofernes; (c) Marco Sensche
Judith Holofernes; (c) Marco Sensche

Richten wir den Blick auf Care-Arbeit: Was denkst Du, was sich durch ein BGE für die Menschen verändern könnte?

Care Arbeit ist das drastische Beispiel dafür, wie wenig sich Bezahlung und Status tatsächlich daran orientieren, welchen Wert eine Arbeit für die Gesellschaft hat. Wir alle brauchen „Care,“ trotzdem sind Care Arbeiter*innen weiter am unteren Ende der Nahrungskette, Balkonapplaus hin oder her. Ich denke, dass ein Grundeinkommen dafür sorgen würde, dass sich mehr Menschen für Care-Arbeit entscheiden würden, aus der Freiheit heraus, etwas machen zu können, was sie für wichtig erachten – ohne sich damit gleichzeitig für ein Leben am Rande des Nervenzusammenbruchs zu entscheiden. Vielleicht sogar, wo kämen wir denn da hin, ein paar Männer. 

Was würde Dich persönlich an einem Modellversuch zum Grundeinkommen am meisten interessieren?

Ich würde gerne sehen, was die Leute machen mit der zusätzlichen Freiheit, ich bin mir sicher, dass da viele spannende Dinge draus entstehen!

Welches “Lieblingsvorurteil” zum Grundeinkommen kannst Du schon nicht mehr hören?

Dass die Menschen mit einem Grundeinkommen faul würden! Das widerspricht meinem Menschenbild zutiefst, und auch meiner direkten Erfahrung. Existenzängste, Stress und Druck haben noch niemanden beflügelt. Freiheit, Spielraum, Durchatmen können, Nachdenken dürfen – all das bringt viel spannendere und sinnvollere Prozesse in Gang. Ich glaube, dass Menschen aus sich heraus den Drang haben, sich sinnvoll in der Welt zu bewegen, Sinn zu schaffen, sich einzubringen, ihren ganz eigenen Wert für eine Gesellschaft zu entdecken und auszudrücken. 

Warum ist gerade Deine Geburtsstadt Berlin die ideale Stadt, ein BGE auszuprobieren?

In Berlin ist der Zusammenhang von „Erwerbsarbeit“ und „Gutem Leben“ vielleicht nicht ganz so zwingend und eng verbunden, wie es das in anderen Städten der Fall ist, auch wenn sich das durch die steigenden Mietpreise leider zunehmend ändert. Trotzdem – ich glaube, Berlin hat Übung darin, mit Freiheit umzugehen.

Vielen Dank für das Interview, liebe Judith!

Foto: Pixabay